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Corona-Notfallgesetzgebung: Virtuelle Hauptversammlung und weitere Erleichterungen für Aktiengesellschaften etc.
Um Aktiengesellschaften (AG), Kommanditgesellschaften auf Aktien (KGaA) und Europäische Gesellschaften (SE) auch während der aktuellen Corona-Krise in die Lage zu versetzen, ungeachtet etwaig andauernder Versammlungsbeschränkungen Beschlüsse zu fassen und so handlungsfähig zu bleiben, sieht der Gesetzgeber vorübergehend substantielle Erleichterungen für die Durchführung von (ordentlichen und außerordentlichen) Hauptversammlungen dieser Gesellschaftsformen vor. Diese Erleichterungen sind im Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht geregelt, das der Bundestag am 25.03.2020 verabschiedet hat. Nachdem der Bundesrat dem Gesetz heute zugestimmt hat, treten die hier beschriebenen gesellschaftsrechtlichen Neuerungen am Tag nach der Verkündung im Bundesgesetzblatt, voraussichtlich also noch im März 2020, in Kraft.
Die Regelungen dieser Notfallgesetzgebung gelten zunächst nur für das Jahr 2020. Sie können aber vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz bis maximal zum 31.12.2021 verlängert werden, wenn dies aufgrund fortbestehender Auswirkungen der COVID-19-Pandemie in der Bundesrepublik Deutschland geboten erscheint.
Die wesentlichen gesetzlichen Neuerungen für die Durchführung von Hauptversammlungen der vorgenannten Gesellschaften lassen sich in Kürze wie folgt zusammenfassen:
1. Präsenzversammlung mit Möglichkeit der elektronischen Teilnahme („Online-Teilnahme“) etc. ohne Satzungsermächtigung
Abweichend von § 118 AktG kann der Vorstand – mit Zustimmung des Aufsichtsrats – nunmehr auch ohne Ermächtigung durch die Satzung bzw. eine Geschäftsordnung im Rahmen einer Präsenzversammlung – neben der physischen Teilnahme – folgende Möglichkeiten zulassen:
- Teilnahme und Stimmabgabe der Aktionäre im Wege elektronischer Kommunikation (§ 118 Abs. 1 und 2 AktG);
- Teilnahme von Mitgliedern des Aufsichtsrats im Wege der Bild- und Tonübertragung (§ 118 Abs. 3 Satz 2 AktG);
- Zulassung der Bild- und Tonübertragung (§ 118 Abs. 4 AktG).
2. Virtuelle Hauptversammlung
Auch eine Präsenzversammlung mit der zusätzlichen Möglichkeit der elektronischen Teilnahme scheidet jedoch aus, solange aufgrund behördlicher Verfügungen Veranstaltungen unabhängig von der Teilnehmerzahl untersagt sind. Daher sieht das Notfallgesetz nun erstmals die Möglichkeit einer virtuellen Hauptversammlung vor.
So kann der Vorstand – mit Zustimmung des Aufsichtsrats – entscheiden, dass die Hauptversammlung ohne physische Präsenz der Aktionäre oder ihrer Bevollmächtigtenvirtuell abgehalten wird. Die Teilnahme ist dann nur noch im Wege elektronischer Zuschaltung möglich. Auch wenn es insoweit keinen klassischen Versammlungsort gibt, sollten der Versammlungsleiter, der die Niederschrift aufnehmende Notar und nach Möglichkeit auch der Stimmrechtsvertreter der Gesellschaft physisch an einem Ort zusammenkommen.
Eine rein virtuelle Hauptversammlung ist jedoch nur zulässig, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
- Die gesamte Hauptversammlung (neben den Berichten von Vorstand und Aufsichtsrat also auch die Generaldebatte und die Abstimmungen) muss in Bild und Ton übertragen werden (z. B. durch Livestream im Internet). Ausweislich der Gesetzesbegründung ist jedoch nicht vorausgesetzt, dass die Übertragung technisch ungestört abläuft und insbesondere bei jedem Aktionär ankommt.
- Die Stimmrechtsausübung der Aktionäre muss im Wege der elektronischen Kommunikation sowie durch Erteilung einer Stimmrechtsvollmachtmöglich sein.
- Den Aktionären muss eine Fragemöglichkeit im Wege der elektronischen Kommunikation (z. B. per E-Mail oder über eine online verfügbare Eingabemaske)eingeräumt werden. Über die Beantwortung von Fragen entscheidet der Vorstand nach pflichtgemäßem Ermessen. Der Vorstand muss also nicht alle Fragen beantworten (insbesondere bei einer Flut von Fragen oder bei inhaltlich inakzeptablen Einwürfen). Er kann mehrere Fragen zusammenfassen und im Interesse der anderen Aktionäre sinnvolle Fragen auswählen. Ausweislich der Gesetzesbegründung ist zudem eine bevorzugteBeantwortung von Fragen möglich, die durch Aktionärsvereinigungen oderinstitutionelle Investorenmit bedeutenden Stimmanteilen gestellt werden. Der Vorstand kann auch vorgeben, dass Fragen bis spätestens zwei Tage vor der Versammlung im Wege elektronischer Kommunikation einzureichen sind.
- Den Aktionären, die ihr Stimmrecht im Wege der elektronischen Kommunikation oder durch Vollmachtserteilung ausgeübt haben (nicht also allen virtuell teilnehmenden Aktionären), muss eine Möglichkeit eingeräumt werden, gegen einen Beschluss der Hauptversammlung auch ohne physische Präsenz Widerspruch zur Niederschrift des Notars zu erheben und dadurch die Anfechtungsbefugnis gemäß § 245 Abs. 1 AktG zu wahren. Der Vorstand hat dafür eine Möglichkeit zum elektronischen Widerspruch beim Notar vorzuhalten (z. B. eine gesonderte E-Mail-Adresse, auf die auch der Notar Zugriff hat, da dieser die Widersprüche wahrnehmen und protokollieren muss). Auch der Widerspruch durch elektronische Kommunikation ist nur bis zum Ende der Hauptversammlung möglich.
Anfechtungsklagen in Bezug auf virtuelle Hauptversammlungen werden zusätzlich zu den im AktG bereits vorgesehenen Begrenzungen des Anfechtungsrechts im Zusammenhang mit technischen Störungen bei der elektronischen Teilnahme und Stimmabgabe (§ 243 Abs. 3 Nr. 1 AktG) weiter stark eingeschränkt. Damit soll die Grundsatzentscheidung für eine virtuelle Hauptversammlung ohne physische Präsenz weitgehend anfechtungsfrei gestellt werden, um zu verhindern, dass Vorstand und Aufsichtsrat aus Sorge vor Anfechtungsrisiken aufgrund technischer Unsicherheiten von den aktuell vorgesehenen Erleichterungen keinen Gebrauch machen. Gleichwohl sollten die Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung und die hierfür benötigten technischen Voraussetzungen rechtzeitig mit dem IT-Dienstleister, den rechtlichen Beratern und dem die Versammlungsniederschrift erstellenden Notarabgestimmt werden.
3. Verkürzung von Fristen im Vorfeld der Hauptversammlung
Der Vorstand kann – mit Zustimmung des Aufsichtsrats – die gesetzlichen Fristen im Vorfeld der Hauptversammlung verkürzen:
- Einberufungsfrist: Die Einberufungsfrist von 30 Tagen (§ 123 Abs. 1 Satz 1 AktG) kann auf 21 Tage reduziert werden.
- Anmeldefrist: Die Regelungen zur Anmeldefrist in § 123 Abs. 2 AktG wurden nicht geändert, d. h. die Anmeldung muss der Gesellschaft mindestens sechs Tage vor der Versammlung zugehen, wenn in der Satzung keine kürzere Frist vorgesehen ist (und die Satzung die Teilnahme an der Hauptversammlung oder die Ausübung des Stimmrechts davon abhängig machen, dass die Aktionäre sich vor der Versammlung anmelden). Der Vorstand kann die Anmeldefrist daher weiterhin nur verkürzen, wenn er dazu durch die Satzung ermächtigt ist (§ 123 Abs. 2 Satz 3 AktG).
- Record Date: Im Fall der der Einberufung mit verkürzter Frist wird der Nachweisstichtag für Inhaberaktien börsennotierter Gesellschaften (§ 123 Abs. 4 Satz 2 AktG, sog. Record Date) vom 21. Tag auf den zwölften Tag vor der Hauptversammlung verlegt. Der Nachweis muss der Gesellschaft – vorbehaltlich einer in der Einladung vorgesehenen kürzeren Frist – bis spätestens am vierten Tag (statt am sechsten Tag) vor der Hauptversammlung zugehen.
- Mitteilungen gemäß § 125 AktG: Im Fall der Einberufung mit verkürzter Frist verkürzt sich auch die Frist für die Mitteilung gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 AktG an Intermediäre, Aktionäre und Aktionärsvereinigungen von 21 Tagen auf spätestens zwölf Tage vor der Hauptversammlung; dementsprechend hat die Mitteilung nach § 125 Abs. 2 AktG an die zu Beginn des zwölften Tages (statt des 21. Tages) vor der Hauptversammlung im Aktienregister Eingetragenen zu erfolgen.
- Ergänzungsverlangen: Im Fall der Einberufung mit verkürzter Frist müssenAktionärsverlangen zur Ergänzung der Tagesordnung (§ 122 Abs. 2 AktG) der Gesellschaft mindestens 14 Tage (statt 24 bzw. – bei börsennotierten Gesellschaften – 30 Tage)vor der Hauptversammlung zugehen.
4. Verlängerung der Frist für die Abhaltung ordentlicher Hauptversammlungen
Abweichend von der Regelung in § 175 Abs. 1 Satz 2 AktG muss die ordentliche Hauptversammlung nicht zwingend in den ersten acht Monaten des Geschäftsjahres stattfinden. Stattdessen kann der Vorstand – mit Zustimmung des Aufsichtsrats – entscheiden, dass die ordentliche Hauptversammlung im Jahr 2020 innerhalb des Geschäftsjahres stattfindet. Ein Zwangsgeldverfahren gemäß § 407 Abs. 1 AktG und eine Schadensersatzhaftung nach § 93 Abs. 2 AktG sind dann ausgeschlossen.
Anmerkung: Für die Europäische Gesellschaft (SE) gilt diese Erleichterung ausdrücklich nicht. Sie bleibt nach EU-Recht grundsätzlich verpflichtet, die ordentliche Hauptversammlung in den ersten sechs Monaten des Geschäftsjahres durchzuführen (Art. 54 Abs. 1 Satz 1 SE-VO). Dem deutschen Gesetzgeber fehlt es insoweit an der Gesetzgebungskompetenz. Bei der SE bleiben daher nur die vorstehend beschriebenen Möglichkeiten der virtuellen Hauptversammlung bzw. der Präsenz-HV mit Online-Teilnahmerecht.
5. Abschlagszahlungen auf den Bilanzgewinn
Abweichend von § 59 Abs. 1 AktG kann der Vorstand – mit Zustimmung des Aufsichtsrats – nunmehr auch ohne Ermächtigung durch die Satzung entscheiden, nach Ablauf des Geschäftsjahres einen Abschlag auf den voraussichtlichen Bilanzgewinn an die Aktionäre zu zahlen. Dabei sind jedoch weiterhin die Vorgaben gemäß § 59 Abs. 2 AktG zu beachten, wonach
- der Abschlag nur gezahlt werden darf, wenn ein vorläufiger Abschluss für das vergangene Geschäftsjahr einen Jahresüberschuss ergibt;
- als Abschlag höchstens die Hälfte des Betrags gezahlt werden darf, der von dem Jahresüberschuss nach Abzug der Beträge verbleibt, die nach Gesetz oder Satzung in Gewinnrücklagen einzustellen sind;
- der Abschlag die Hälfte des vorjährigen Bilanzgewinns nicht übersteigen darf.
6. Erleichterte Beschlussfassung über die Zustimmung des Aufsichtsrats
Der Aufsichtsrat kann Beschlüsse über seine Zustimmung, die im Zusammenhang mit den vorstehenden Punkten jeweils erforderlich ist, abweichend von § 108 Abs. 4 AktG und ungeachtet etwaiger Regelungen in der Satzung oder einer Geschäftsordnung ohne physische Anwesenheit der Mitglieder schriftlich, fernmündlich oder in vergleichbarer Weise (beispielsweise also in Videokonferenzen oder per E-Mail oder gar WhatsApp) fassen. Dabei ist jedoch stets auf eine sorgfältige Dokumentation zu achten. Nicht abbedungen ist – vorbehaltlich einer anderslautenden Regelung in Satzung oder Geschäftsordnung – das Recht der Aufsichtsratsmitglieder, einer solchen Form der Beschlussfassung zu widersprechen; die Ausübung dieses Widerspruchsrechts dürfte in der aktuellen Zeit indes kaum pflichtgemäß sein.