Wirtschaftsrecht Frankreich
Führt die Corona-Pandemie bei Handelsverträgen nach französischem Recht zum Eingreifen der Force-Majeure-Regelung?
Deutsche Unternehmen, die vertragliche Beziehungen mit Handelspartnern aus Frankreich unterhalten, können mit der Frage konfrontiert sein, wie die Folgen des Ausbruchs der COVID-19 Pandemie auf Verträge nach französischem Recht beurteilt werden.
Dies gilt jedenfalls dann, wenn französisches Recht in solchen deutsch-französischen Verträgen aufgrund einer Rechtswahlklausel im Vertrag, in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder aufgrund der anwendbaren Kollisionsnormen (insbesondere der Rom-I-Verordnung) im konkreten Fall Anwendung findet und das UN-Kaufrecht ausgeschlossen wurde oder dessen Anwendungsbereich nicht eröffnet ist[1]. Wesentliche Bedeutung kommt im Fall der Anwendbarkeit französischen materiellen Rechts dem Tatbestand der Force Majeure zu. Allerdings kennt das französische Recht auch noch andere Bestimmungen, die im Zusammenhang mit der Coronakrise zu berücksichtigen sind, auf die in diesem Artikel jedoch nicht im Einzelnen eingegangen wird.
Im Gegensatz zur Rechtslage in Deutschland kennt das französische Recht einen Tatbestand der Force Majeure (Höhere Gewalt)
Im deutschen Recht kann der Tatbestand der Höheren Gewalt (Force Majeure) zwar vertraglich geregelt werden, jedoch gibt es keine gesetzliche Vorschrift, die ohne eine entsprechende vertragliche Übereinkunft automatisch im Fall der Höheren Gewalt eingreift. Situationen, die in anderen Rechtsordnungen den Force-Majeure-Regelungen unterfallen, werden im deutschen Recht über die Rechtsinstitute der Unmöglichkeit oder des Wegfalls der Geschäftsgrundlage gelöst.
Im französischen Recht wird der Tatbestand der Force Majeure in Artikel 1218 des französischen Zivilgesetzbuches (Code civil) normiert. Dort heißt es:
« Il y a force majeure en matière contractuelle lorsqu’un événement échappant au contrôle du débiteur, qui ne pouvait être raisonnablement prévu lors de la conclusion du contrat et dont les effets ne peuvent être évités par des mesures appropriées, empêche l’exécution de son obligation par le débiteur.
Si l’empêchement est temporaire, l’exécution de l’obligation est suspendue à moins que le retard qui en résulterait ne justifie la résolution du contrat. Si l’empêchement est définitif, le contrat est résolu de plein droit et les parties sont libérées de leurs obligations dans les conditions prévues aux articles 1351 et 1351-1. »
In deutscher Übersetzung:
„In Vertragsangelegenheiten liegt höhere Gewalt vor, wenn ein Ereignis außerhalb der Kontrolle des Schuldners, das bei Vertragsschluss nicht vernünftigerweise vorhersehbar war und dessen Auswirkungen durch geeignete Maßnahmen nicht vermieden werden können, die Leistungserbringung durch den Schuldner verhindert.
Wenn das Hindernis nur vorübergehend ist, wird die Erfüllung der Verpflichtung ausgesetzt, es sei denn, die daraus resultierende Verzögerung rechtfertigt die Auflösung des Vertrags. Wenn das Hindernis endgültig ist, wird der Vertrag automatisch aufgelöst und die Parteien werden unter den in den Artikeln 1351 und 1351-1 vorgesehenen Bedingungen von ihren Verpflichtungen frei.“
(Hervorhebungen durch den Autor)
Voraussetzungen für das Eingreifen der Force-Majeure-Regelung
Demnach müssen kumulativ drei Voraussetzungen vorliegen, damit die Rechtsfolgen der Force-Majeure-Regelung eingreifen können:
1. Es muss sich um ein Ereignis handeln, das außerhalb der Kontrolle derjenigen Person liegt, welche die konkrete vertragliche Leistung schuldet und sich auf Force Majeure beruft.
2. Das Ereignis darf bei Vertragsschluss nicht „vernünftigerweise“ vorhersehbar gewesen sein.
3. Die Verhinderung der Leistungserbringung darf nicht durch geeignete Maßnahmen vermeidbar sein.
4. Das Ereignis muss die Leistungserbringung verhindern.
Es ist darauf hinzuweisen, dass der Artikel 1218 des Code civil dispositiver Natur ist, d. h. die Vertragsparteien können ihn abbedingen oder verändern. Bevor man sich Gedanken darüber macht, ob Artikel 1218 Code civil im konkreten Fall einschlägig sein könnte, sollte daher zunächst der Vertrag genau geprüft werden.
Französische Rechtsprechung zu Force Majeure im Zusammenhang mit Epidemien
In der aktuellen Situation stellt sich die Frage, ob die durch das neuartige Coronavirus ausgelöste Pandemie nach französischem Recht als Fall der Force Majeure zu bewerten ist.
Die französische Rechtsprechung hatte in der Vergangenheit mehrfach die Gelegenheit, zu der Frage Stellung zu beziehen, ob Virusepidemien die Anwendungsvoraussetzungen der Force Majeure erfüllen. Allerdings ist in diesem Kontext darauf hinzuweisen, dass der aktuelle Artikel 1218 Code civil erst seit 2016 in Kraft ist und die zitierten Entscheidungen noch zu der Vorgängervorschrift des Artikel 1148 Code civil ergangen sind, welche die Force Majeure etwas anders definierte.
Im Zusammenhang mit dem Ausbruch der Schweinegrippe (H1N1) im Jahr 2009 urteilte der Berufungsgerichtshof von Besançon am 8. Januar 2014 (n° 12/0229), dass es sich nicht um ein Force-Majeure-Ereignis handelte. Ähnlich entschieden die französischen Gerichte angesichts des Ausbruchs des Denguefiebers[2] und des Chikungunya-Virus[3]. Ausschlaggebend für diese Wertung war, dass die Krankheiten und ihre Verbreitungswege sowie ihre gesundheitlichen Auswirkungen bereits vorher bekannt bzw. kontrollierbar waren und dass die Letalität nicht als ausreichend hoch eingeschätzt wurde.
Es kann also festgehalten werden, dass nicht jeder Ausbruch einer Epidemie als Force-Majeure-Ereignis in Frage kommt.
Die gegenwärtige Situation unterscheidet sich grundlegend von früheren Epidemien
Jedoch gehen französische Juristen[4] davon aus, dass diese Präzedenzfälle anders gelagert waren als die aktuelle Corona-Pandemie. Bereits der Umstand, dass es sich hier um ein neuartiges Coronavirus handelt, macht deutlich, dass man es dieses Mal, anders als in den oben erwähnten Gerichtsfällen, nicht mit einer bekannten Krankheit zu tun hat.
Des Weiteren ist die Sterblichkeitsrate im Fall von COVID-19 insbesondere im Hinblick auf bestimmte Bevölkerungsgruppen deutlich höher als beispielsweise bei der Schweinegrippe. Hinzu kommt, dass es noch kein allgemein anerkanntes Medikament, geschweige denn einen Impfstoff, gibt, der eine wirksame Bekämpfung der Krankheitsursache möglich macht.
Ein ganz gravierender Unterschied zu den früheren Rechtsfällen liegt darin begründet, dass dieses Mal die Weltgesundheitsorganisation WHO den COVID-19 Ausbruch offiziell als „Pandemie“ eingestuft hat. Die meisten Staaten haben mittlerweile sehr einschneidende Maßnahmen verhängt, die für sich genommen schon als Force-Majeure-Ereignisse in Frage kommen, da sie die Erfüllung vertraglicher Verpflichtungen teilweise nicht mehr legal ermöglichen. Der französische Wirtschafts- und Finanzminister, Bruno Le Maire, verkündete am 28. Februar 2020, die Corona-Pandemie werde als ein Fall Höherer Gewalt für Unternehmen im Bereich öffentlicher Aufträge anerkannt, sodass Vertragsstrafregelungen im Fall der verspäteten Leistungserbringung nicht angewendet würden.
Die Voraussetzung der „Unvorhersehbarkeit“ gebietet eine differenzierte Betrachtung je nach Zeitpunkt des Vertragsschlusses
Man könnte sich allerdings die Frage stellen, ob das Kriterium der Unvorhersehbarkeit erfüllt ist, da Virologen bereits seit einigen Jahren auf die Gefahr einer Pandemie hinweisen. Diesbezüglich dürfte aber wohl davon auszugehen sein, dass der konkrete Ausbruch der COVID-19 Pandemie nicht vorhersehbar war, da dieses spezielle Coronavirus auch in der Wissenschaft bisher nicht bekannt war. Auch dürfte es für die Voraussetzung der Unvorhersehbarkeit genügen, wenn ein bestimmtes Ereignis zwar abstrakt als möglich voraussehbar war, jedoch keine Anhaltspunkte für eine Realisierung dieser abstrakten Gefahr bei Vertragsschluss bestanden.
Als Zwischenergebnis kann also festgehalten werden, dass nach vorherrschender Auffassung die aktuelle Corona-Pandemie prinzipiell ein Ereignis ist, welches nach französischem Recht die Voraussetzungen der Force Majeure nach Artikel 1218 Code civil (unkontrollierbar, unvorhersehbar, unvermeidbar) erfüllt.
Grundsätzliche Eignung als Force-Majeure-Ereignis entbindet nicht in jedem Fall von der Vertragspflicht
Dies bedeutet jedoch nicht automatisch, dass eine Vertragspartei die Erfüllung ihrer vertraglichen Pflichten unter Berufung auf die Corona-Pandemie einstellen darf.
Vielmehr ist die Partei, die eine vertragliche Leistung schuldet und sich auf Höhere Gewalt berufen möchte, in der Darlegungspflicht dafür, dass ihr die Erbringung der vertraglich geschuldeten Leistung aufgrund des Force-Majeure-Ereignisses nicht mehr möglich ist. Es muss also eine Kausalität zwischen der Pandemie und der Leistungsverhinderung bestehen und von dem Schuldner der betreffenden Leistungspflicht glaubhaft gemacht werden[5].
Auch muss die Vertragspartei, die sich auf Force Majeure beruft, den Beweis dafür erbringen, dass der Ausbruch der Corona-Pandemie für sie im Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht vorhersehbar war. Spätestens Mitte bis Ende Februar dürften sich die Anzeichen dafür, dass sich die mit einigen Monaten Vorlauf in China begonnene Epidemie weltweit ausbreiten würde und schwerwiegende Folgen auch in Europa immer wahrscheinlicher würden, so stark verdichtet haben, dass nicht mehr von einer Unvorhersehbarkeit ausgegangen werden konnte.
Darüber hinaus muss genau geprüft werden, ob die Leistungserbringung zum fraglichen Zeitpunkt tatsächlich schon unmöglich war, da die von staatlicher Seite verhängten Maßnahmen sukzessive verschärft wurden und eine Leistungserbringung gegebenenfalls zunächst trotz einiger Einschränkungen noch möglich war.
Rechtsfolge: Aussetzung oder Auflösung des Vertrags
Auf der Rechtsfolgenseite führt die rechtmäßige Berufung einer Vertragspartei auf Höhere Gewalt dazu, dass die Leistungserbringungspflicht temporär ausgesetzt wird, d. h. sie muss zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden, wenn das Hindernis verschwunden ist. Nur in dem Fall, dass die durch die Aussetzung der Leistungsverpflichtung ausgelöste Verzögerung eine Auflösung des Vertrags rechtfertigt, beispielsweise weil die Vertragserfüllung nach Ende des Leistungshindernisses nicht mehr von Interesse ist, kann der Vertrag auf Antrag durch richterliche Entscheidung aufgehoben werden[6]. Wenn das Hindernis nicht nur vorübergehender, sondern permanenter Natur ist, wird der Vertrag sogar qua Gesetz aufgelöst und der Schuldner wird dauerhaft von seiner Leistungspflicht frei (Art. 1351 Code civil). Er trägt in diesem Fall keine Verantwortung für die Nichterbringung seiner Leistungspflicht und ist der anderen Vertragspartei nicht zu Schadensersatz verpflichtet (Art. 1231-1 Code civil).
Alternativen zur Force Majeure
Wenn die Voraussetzungen der Force Majeure nicht vorliegen, weil beispielsweise im konkreten Fall keine totale Verhinderung der Leistungserbringung gegeben ist, sollten auf jeden Fall auch andere Bestimmungen des französischen Rechts in Erwägung gezogen werden. In diesem Zusammenhang ist insbesondere das Rechtsinstitut der „Imprévision“, also der Unvorhersehbarkeit, zu nennen, das in Artikel 1195 Code civil genannt ist. Hiernach besteht in Fällen, in denen die Leistungserbringung zwar nicht unmöglich, jedoch durch eine bei Vertragsschluss unvorhersehbare Veränderung der Umstände extrem kostspielig geworden ist, ein Anspruch auf Anpassung des Vertrags.
Als weitere Möglichkeit ist Artikel 1343-5 Code civil zu nennen, der es dem Schuldner unter bestimmten Voraussetzungen ermöglicht, die Einräumung von Zahlungsaufschüben oder Ratenzahlungsplänen zu erreichen.
Darüber hinaus hat die französische Regierung im Zuge der gegenwärtigen Krise auf dem Verordnungswege Eingriffsnormen in Kraft gesetzt, die sich bei Vorliegen der Voraussetzungen direkt auf die gegenseitigen Rechte und Pflichten der Parteien bestimmter privatrechtlicher Verträge auswirken.
Fazit
Grundsätzlich ist die COVID-19 Pandemie nach französischem Recht geeignet, um als Fall Höherer Gewalt (Force Majeure) anerkannt zu werden. Jedoch muss in jedem Einzelfall genau geprüft werden, ob alle Voraussetzungen für eine Aussetzung oder Aufhebung der Leistungspflicht vorliegen. Bei langfristigen Lieferbeziehungen muss, wenn der Lieferant sich auf Force Majeure beruft, genau geprüft werden, unter welchen Voraussetzungen Ersatzbeschaffungen bei alternativen Lieferanten vorgenommen werden dürfen und wann die ursprüngliche Lieferbeziehung wieder aufgenommen werden muss. Es besteht hier ein Spannungsverhältnis zwischen den Bestimmungen zur Force Majeure einerseits und denjenigen zum brutalen Abbruch einer langjährigen Geschäftsbeziehung (rupture brutale des relations commerciales établies) gemäß Art. L. 442-1 II Code de commerce andererseits.
[1] Bei gewerblichen Kaufverträgen über neue Sachen zwischen einer deutschen und einer französischen Vertragspartei findet vorrangig das UN-Kaufrecht (CISG) Anwendung, da sowohl die französische als auch die deutsche Rechtsordnung auf dieses Einheitsrecht verweisen.
[2] Cour d’appel von Nancy, 22. November 2010, n° 09/00003
[3] Cour d’appel von Saint-Denis de la Réunion, 29. Dezember 2009, n° 08/02114 ; Cour d’appel von Basse-Terre, 17. Dezember 2018, n°17/00739.
[4] Vgl. z. B. Landivaux, Ludovic: Contrats et coronavirus : un cas de force majeure ? Ça dépend… (https://www.dalloz-actualite.fr/node/contrats-et-coronavirus-un-cas-de-force-majeure-ca-depend#.Xotu4m5uKas); Guiomard, Pascale : La grippe, les épidémies et la force majeure en dix arrêts (https://www.dalloz-actualite.fr/flash/grippe-epidemies-et-force-majeure-en-dix-arrets#.Xos5rm5uKas)
[5] Cour d’appel von Paris, 17. März 2016, n° 15/04263
[6] Mercadal, Réforme du droit des contrats, Force majeure, Nr. 697